An die Geräusche!

Von Seda Niğbolu und Ulf Schleth

Virtuosität ohne Action: Der global arbeitende Videokünstler Lillevan bei seinem gemeinsamen Auftritt mit dem Musiker Fennesz

Virtuosität ohne Action: Der global arbeitende Videokünstler Lillevan bei seinem gemeinsamen Auftritt mit dem Musiker Fennesz. Foto: Ulf Schleth

Letzte Woche fand in Berlin zum dritten Mal nach einjähriger Pause das Festival A L’ARME! statt, das sich selbst als “International Jazz & Soundart Meeting” bezeichnet, dabei aber auch eine Menge fürs Auge zu bieten hatte. An vier Tagen waren internationale Musiker mit Jazz-Experimenten, elektroakustischer Klangkunst, audiovisuellen Performances und zeitgenössischer Choreographie zu genießen. Unter der künstlerischen Leitung von Louis Rastig hatte jeder Abend für sich eine sehr gut konzipierte Einheit. Mal voller poetischer Schönheit, mal gefüllt mit herausfordernden Improvisationen.

Zum “Grand Opening” in Berghain entlockte Mette Rasmussen ihrem Altsaxophon eine Vielzahl von Geräuschen: Flattern, Zirpen, Pfeifen, clowneske Hüpfgeräusche. Sie benutzte Plastikwasserflaschen, Pappbecher und Trommelfelle als Dämpfer und schuf so neue Resonanzen. Sie machte aus ihrem Instrument einen Klangzirkus und schaffte es trotz aller Vergnüglichkeit und Akrobatik eine nachdenkliche kleine Geschichte zu erzählen. Später am Abend begegneten sich erstmalig zwei amerikanische Größen. Die aus den Tiefen der Erde dröhnenden Alt-Sax-Sirenen von Colin Stetson verschwammen mit E-Bass Rythmen von Bill Laswell. Die viel zu laut aufgedrehten Boxentürme und die direkt auf die Augen der Besucher gerichteten Lichtorgeln im Berghain beeinträchtigten das musikalische Erlebnis ein wenig, auch wenn sie das kontrollierte Chaos des Jazz-Metal Trios Zu gut zur Geltung brachten.

Mit luftigen Räumen am Wasser, unaufdringlichem Charakter und Sitzgelegenheiten war das Radialsystem V sehr gut geeignet für den Rest des Festivals, das viel Konzentration bedurfte. Es war schön, dort die 4 Frauen der dänischen Gruppe Selvhenter zu erleben. Die krachigeren Jazzformationen sind sonst immer noch zu stark männlich geprägt. Ganz ohne Gitarren integrieren Selvhenter Einflüsse wie Noise, Punk oder Metal in ihren Sound. Es ist erfreulich, dass es in der jüngeren Generation der experimentellen Musik immer mehr Frauen gibt, anders als in den früheren Jahren der Feministin Irène Schweizer, die live zu erleben war. A L’ARME! ist gelungen, die Vielfalt der zeitgenössischen Klangexperimente zu reflektieren. Doch der Anspruch einer spielerischen Interdisziplinäritat, der A L’Arme ausmacht, wurde am besten durch die Tanzperformanzen im Programm präsentiert.

Das Tanzstück Marzo (italienisch für März) der italienischen Tanzcompagnie “Dewey Dell” spielte mit den Gefühlen und Sinnen der Zuschauer. Im Innern eines Kraters erleben sich in Konvulsionen bewegende mikrobenhafte Wesen aus der Zukunft den kriegerischen Monat März: There exists an ambiguous and disorientating force that, in the most absolute way, contains within itself the spectrum of human emotion.” Ein verwirrendes, sehr überzeugendes Stück. Die Schauspieler steckten in den poppigen Sci-Fi Kostümen von Yuichi Yokoyama, die eine Symbiose aus Power Rangers, Marshmallow Man und Takeshi’s Castle sein könnten. In der vereinnahmenden Klangkunst von Demetrio Castellucci trafen sich die Mikroben aus einer anderen Zeit mit den Zuschauern der Gegenwart.

Nach der futuristisch-filmischen Darbietung von „Marzo“ wurde es mit exFolia emotional direkter und roher. Ein schlammverschmiertes, in Zeitungfetzen gewickeltes weibliches Urwesen erinnerte gleichzeitig an die Überforderung und die Vitalität des Daseins. Die Spannnung zwischen der Musik auf der Bühne, vor allem Andy Moor’s (von The Ex) verzerrte Gitarren und der nackten Existenz der Tänzerin Marcela Giesche war ein kräftiger Ausdruck der Körperlichkeit beider Disziplinen, die miteineinander verschmolzen. Als Moor, Ken Vandermark und Paal Nilssen-Love dann mit der äthiopischen Gruppe Fendika, begleitet vom vehementen Tanz deren Performer improvisierten, kamen Symbolik und Rituale unterschiedlicher Welten zusammen. Ohne Exotisierung, natürlich und explosiv. Damit erreichte das Festival zum Finale den Höhepunkt der Freiheit, der endlich auch den Tanzwillen des Publikums entfesselte.

Die Bestrebung des Festivals, die Disziplinen zu verschmelzen ist eine sehr Wichtige, die aber immer noch von einem relativ kleinen offenen Publikum geschätzt wird. Für ein Grossteil der Liebhaber experimenteller Musik ist “Jazz” wegen der Vorurteile gegenüber “Elitärem” und “Klassischen” immer noch ein unentdecktes Land. Umgekehrt ist es auch nicht besser. Viele haben die pastorale Elegie von Fennesz und Lillevan’s Mahler-Remixen zu früh verlassen. Sie haben entweder nur “Lärm” wahrgenommen, oder hatten ein anderes Verständnis von Virtuosität, bei der auf der Bühne mehr “passieren” muss. Die hohen Preise machen den Zugang für Nicht-Kenner nicht einfacher. Natürlich gibt man sein Geld (circa 30 euro am Tag) lieber für Bewährtes wie das Drone Ritual von Sunn O))) aus, als ein Risiko einzugehen und sein Geld für die Programmpunkte auszugeben, die Zukunftsforschung betreiben. Es ist zu hoffen, dass A L’ARME! in den kommenden Jahren mehr Förderung erhält, um noch mehr Leute anziehen zu können, die Freude an musikalischer Entdeckung und Innovation haben.

Dieser Text erschien in der “jungen Welt”.

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