Sieben Tage Istanbul

von Ulf Schleth

Ein Wahllokal in einer Istanbuler Grundschule. Auch hier darf Atatürk nicht fehlen.

Ein Wahllokal in einer Istanbuler Grundschule. Auch hier darf Atatürk nicht fehlen.

1. Juni 2015. Zufällig deckt sich der zweite Jahrestag der Gezi-Proteste mit einer Hochzeitseinladung. Der erste Flug nach Istanbul. Schon bei der Landung zeigt sich die immense Größe der Stadt, die mit über 14 Millionen Einwohnern fast ein Fünftel der türkischen Bevölkerung beherbergt und immer weiter wächst, genau wie ihre Bedeutung für das politische Leben der Türkei. Die Fahrt zur Unterkunft in Kadıköy, dem Kreuzberg Istanbuls, zeigt die ganze Schönheit der Stadt am Bosporus, aber auch das starke soziale Gefälle. Ehrgeizige Neubauprojekte; bombastische Bürotürme, riesige Shopping-Malls und “Residenzen” ragen in den Himmel, grosse Wohnanlagen, bei denen vom Supermarkt bis zum Fitnessstudio alles eingebaut ist, außer einem Krematorium. Der Bauwahn gentrifiziert und zerstört Kommunen, was einer der Auslöser für Gezi war.

2. Juni. Nach dem Aufstehen wird zuerst die Warnung davor ausgesprochen, das Wasser aus der Leitung zu trinken. Es riecht nach Schwimmbad. Nach Chlor. Statt Kläranlagen zu bauen, werden die Bakterien so in Schach gehalten. Der Papiermüll von gestern muß weg. Fehlt nur der Papierkorb. Mülltrennung ist Ausnahme. Draußen fällt ins Auge, daß Leute Personenwaagen am Gehweg aufstellen und ihre Dienste anbieten. Eine schöne Idee. Wenigstens für jene, die wissen wollen, wieviel sie wiegen.

3. Juni. Das türkische CNN hat Humor. Es läuft ein Interview mit einem angesehenen türkischen Veterinär, der den zahlreichen Straßenkatzen der Stadt empfiehlt, Transformatoren fernzubleiben. Seit der Kommunalwahl 2014 ein running Gag. Damals wurde ein landesweiter Stromausfall von Regierungsseite damit erklärt, daß eine Katze in den ‪‎Trafo eines Kraftwerks geraten sei.

4. Juni. Endlich ist es soweit. Braut, Bräutigam und ihre Eltern haben keine Kosten und Mühen gescheut, die Hochzeit zu einem einmaligen Erlebnis werden zu lassen. Das Glück in ihren Gesichtern zeigt, daß das gelungen ist. Von der Bootstour zu Beginn bis zur Afterparty im “Anjelique”. Während das Brautpaar dank eines Sonderdeals seine eigenen Getränke mitbringen darf und weniger zahlt, stehen die Kinder der oberen Hunderttausend Istanbuls auf der Terrasse der Edeldisco, um sehen und gesehen zu werden. Niemand tanzt; trotz “world-famous DJ’s”. Als wir damit anfangen, gucken die anderen Gäste pikiert. Sie haben große silberne Pokale, gefüllt mit Eis und mehreren Flaschen bestellt. Eine Flasche Gin kostet umgerechnet 200 Euro. Beim Feiern sehen sie auf das malerische Marmarameer in dem man nicht schwimmen kann, weil Istanbul noch immer seinen Hausmüll darin versenkt.

5. Juni. Besorgnis zeigt sich auf den Gesichtern der türkischen Gastgeber. Bei Explosionen in der Stadt Diyarbakır sterben während einer Kundgebung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zwei Menschen, zahlreiche werden verletzt. Wird noch mehr passieren? Wer ist verantwortlich? Staatspräsident Erdoğan vielleicht? Kurz zuvor hatte er behauptet, alle hätten sich verschworen, um die HDP zu stützen: nicht nur die Opposition, sondern auch pro-armenische Kräfte und die Homosexuellen. Katzenwitze kommen diesmal erst später und nur von den Leuten mit so richtig tiefschwarzem Humor und denen, die auf diese Weise schlimme Erlebnisse verarbeiten.

Später am Abend Gespräche mit Freunden in einem Meyhane in Kadıköy, bei Rakı und leckeren Meze. Einige haben kemalistische Eltern, die hart gearbeitet haben, damit sie es einmal besser haben. Sie haben ihre Abschlüsse an europäischen Schulen in Istanbul und Universitäten in Europa gemacht. Sie waren bei Gezi dabei und sind sich einig – sie werden HDP wählen. Die HDP ist nicht nur prokurdisch, sie ist auch auf Seiten anderer Minderheiten; Mitglieder Ihres Vorstandes sind Vertreter der LGBT-Bewegung (Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender). Alle sagen, daß es eine Änderung geben kann. Nicht wenige haben sich freiwillig als Wahlhelfer verdingt. Man will die Kontrolle nicht den AKP-Anhängern überlassen.

6. Juni. Bei einem ausgedehnten Spaziergang am Wasser entlang fallen schöne historische Gebäude ins Auge, die jedoch sämtlich in privater Hand sind. “Die Schönheit Istanbuls” sagt eine ganz besondere Freundin, “ist nicht zum Anfassen”. Wir laufen weiter bis in den islamisch-konservativen Stadtteil Fatih. Eine aus unserer Gruppe wird von einem Jugendlichen begrapscht. Es wird dunkel. Wir entfernen uns zügig. Wir wissen nicht, wieviele seiner Freunde in der Nähe sind und wollen kein Risiko eingehen. Alles in allem war dies noch ein harmloses Zeichen religiöser Doppelmoral.

7. Juni. Gegessen und auf das Wahlergebnis gewartet wird wieder in einem Meyhane. Alkohol ist am Wahltag verboten. Im zweiten Stock abseits der Fenster und abseits der Blicke des Ordnungsamtes dürfen wir dann doch etwas trinken. Dafür schmeckt das Essen nicht. Die AKP verliert ihre absolute Mehrheit. Die Freude ist groß, aber gelassen. Es gibt noch viel zu tun. Das weiß auch Ayşenur. Sie glaubt, es wird eine Koalition gefunden werden, die für mindestens zwei Jahre halten wird. Wenn es aber nicht innerhalb eines Jahres zu strukturellen Reformen kommt, wird es frühe Neuwahlen geben, glaubt sie. Für das Selbstbewußtsein waren die Wahlen jedenfalls hilfreich. Endlich hat die Übermacht der AKP Kratzer bekommen und Erdoğans befürchtete Präsidialdiktatur ist vom Tisch. Zumindest vorerst.

“Now we see that life can be actually fair…” hat Ayşenur gesagt. Daran denke ich noch auf dem Rückflug nach Berlin.

Dieser Text erschien am 13.06.2015 in gekürzter Version in der jungen Welt.

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