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MARBURGANDERLAHNBUCH
Hrsg.: Ambros Waibel & Nils Folckers
Verbrecher Verlag
ISBN : 3-935843-33-X
13,00 € (26,00 SFr)

An Marburg denken heißt zurückdenken - zumindest für die Mehrzahl derer, die durchlaufen haben, was das mittelhessische Bergnest prägt: Die Universität. Dass die Stadt weit mehr zu bieten hat als Lahnberge und Phil-Fak lässt sich im Marburganderlahnbuch nachlesen und betrachten: Glamour und Verdammnis der Kleinstadtboheme, Leben, Lieben und Lernen um die Jahrtausendwende, ethnologische Exkursionen in die rätselhafte Welt der Einheimischen, Besucher zwischen Betörung und Verstörung - ein Studienbuch im besten Sinne.
Bilder und Texte von Anonymus, Frank Benz, Klaus Bittermann, Johanna Durnbaugh, Wiglaf Droste, Eugen Egner, Steven Fitzgerald, Caroline Hartge, Arno Hau, Meike Jansen, Hartmut El Kurdi, Enzo Pe Matthias Penzel, Hermann Ploppa, Rattelschneck, Harry Rowohlt, Ulf Schleth, Christian Y. Schmidt, ©TOM, Horst Tomayer, Ambros Waibel, Jule Witte, Tom Wolf und Frank T. Zumbach

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Deutschlandfunk, Büchermarkt, 20.02.2004:
[...] Die Texte bekannter Autoren wie Wiglaf Droste, Tanja Dückers oder Harry Rowohlt zählen dabei zu den eher schwächeren, Namen wie Ulf Schleth, Deniz Yücel, Axel John Wieder oder Peter O. Chotjewitz sollte man hingegen in Erinnerung behalten [...]

[...] Auch Berlin ist nicht London oder Paris, und wer die Provinz in sich trägt, kann sie nicht einfach ablegen wie ein Hemd. Das beschreibt Ulf Schleth eindringlich im Marburganderlahnbuch:

18. April 1999, irgendwo in Brandenburg. Mein Ohr liegt auf dem kalten Stahl und ich höre das Zirpen der Ewigkeit. Er wird lauter, je näher er kommt, der Intercity von Berlin nach Konstanz, mit Halt in Mehrburg. Es ist kalt, aber nicht so kalt, dass ich Angst haben müsste, mein Ohr würde am Gleis festfrieren. Mehrburg ist aus meinem Leben verschwunden. Meine Freunde von damals haben sich über alle deutschen Bundesländer verteilt. Ein paar sind geblieben. Von diesen paar sind nur wenige nicht irre oder drogenabhängig geworden. Ich stelle mir vor, wie sie dort sitzen und ihr Leben leben. Wie sie alle Blutkörperchen sind in Mehrburgs gesellschaftlichem Kreislauf. Wie sie jedes Jahr dreißigtausend neue Studenten in Empfang nehmen und dreißigtausend alte wieder verabschieden. Niemand wird sich mehr die Mühe machen machen, enge Freundschaften zu diesen Durchreisenden aufzubauen, die sie dann nur einige Semester später wieder verlieren werden. Ich denke an Rebeccah. Ich habe nie wieder von ihr gehört. Mein Königreich liegt nur an einem Ort in meinem Herzen, an den ich nie wieder werde zurückkehren können. Zuhause wartet meine Familie darauf, dass ich heimkomme und ihnen das Abendessen zubereite. Sie werden sich fragen, wo ich bleibe. Jeden Sonntag fahre ich hierher und lege mein Ohr auf eine Schiene. Erst wenn ich den Triebwagen spüre, wenn das Gleisbett donnert, der Lokführer mich sieht und das Signalhorn ertönt, springe ich zur Seite, setze mich ins Auto und fahre zurück. Es wird immer schwieriger, einen Gleisabschnitt zu finden, an dem nicht schon die Häscher des Bundesgrenzschutzes warten. Sie werden mich nicht erwischen, nie mehr werde ich Sonntags zuhause bleiben. Ich würde das Leben nicht länger spüren und jeder Tag wäre mein alltäglicher Tod.

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