Der nackte Kosmos modernen Lebens

von Ulf Schleth

Schon als die Quellenangaben aus Helene Hegemanns „Axoloti Roadkill“ veröffentlicht wurden, musste der eine oder die andere stutzen: mit aufgeführt war auch „Meine Mutter: Dämonologie“ von der 1997 an Brustkrebs gestorbenen Kathy Acker, in der deutschen Erstausgabe erschienen im legendären Berliner Maas Verlag des mittlerweile ebenfalls verstorbenen Erich Maas. Helene Hegemann bediente sich damit bei einer Frau, die selbst eine der Ikonen des Cut-Ups, dem Collagieren von eigenen und fremden Texten war. Was für ein Glück, daß jetzt der österreichische Milena Verlag diese wunderbare Übersetzung wieder neu aufgelegt hat. Dass der Zeitpunkt des Erscheinens dieses Buch nun in einen Kontext setzt mit Helene Hegemann und Charlotte Roches „Feuchtgebiete“ lag nicht unbedingt in der Absicht des Verlages, ist aber ein interessantes Phänomen, weil es zum einen die Vergesslichkeit des Literaturbetriebes widerspiegelt und uns zum anderen erlaubt, Querverbindungen herzustellen zwischen Werken, deren erstes Erscheinen 16 Jahre auseinander liegt und deren Autorinnen unterschiedlicher nicht sein könnten.

Hegemann und Roche hatten beide ihre Skandale. Hegemanns Skandal beruhte weniger auf jenen, die vergessen hatten, dass Cut-Up ein alter (aber schicker) Hut ist, als auf dem Umstand dass sie ihre Technik erweiterte um etwas, das Plagiarismus sehr viel ähnlicher ist: dem Abschreiben bei einem lebendigen Blogger, den sie vorsorglich lieber nicht in ihr Vorhaben einweihte. Roche hatte einen Skandal, weil sie schmutzige Worte benutzte. Beide Skandale gab es nur, weil sie das Glück hatten, bei grösseren Verlagen mit gut geölten PR-Maschinierien veröffentlichen zu dürfen. Und sie hinterliessen beide das Gefühl, daß unser Bildungungsbürgertum immer noch in einem Zeitalter der Prüderie lebt, obwohl wir schon alle Tabubrüche hinter uns haben, die man nur wünschen kann, trotz aller Kit-Kat-Clubs und Youporns dieser Welt.

Und nun nehmen wir Kathy Acker zur Hand, die im Stile eines Tagebuches ihre Cut-Ups herumwirbelt und zu seinem vielschichtigen Spiegel der Gesellschaft und ihrer Selbst verarbeitet und sie so anordnet, als hätten sie von Anfang an genau so aufgeschrieben werden müssen. Kathy Acker ist Punk, Kathy Acker ist ein enfant terrible, Kathy Acker ist politisch, intensiv und unbequem. Und das ist auch ihre Protagonistin: Kompromisslos lebt sie ihr Begehren, erbarmungslos ist ihr Blick hinter die Kulissen unserer Zeit, auf die Lügen der Geschlechterrollen und die der bourgeoisen Familie. Die Aktualität des Buches ist erstaunlich; der Nahost-Konflikt und Afghanistan werden so abgehandelt, dass man verwundert nochmal auf das Erscheinungsdatum schielen muss. Wie wenig sich geändert hat!

Im Kern jedoch verwendet Acker die Beziehung zwischen Colette “Laure” Peignot und Georges Bataille als Anker, um „von den Verstrickungen einer Frau in die widersprüchlichen Impulse von Zuneigung und Einsamkeit“ (Milena) zu erzählen. Sie bricht die Geschlechterrollen auf, seziert das Männliche und das W eibliche unablässig und lässt beide immer wieder aufeinander prallen. Sie macht daraus die Geschichte eines werdenden Menschen, der mit dem Werden nicht mehr aufhört, eine Geschichte der Selbstfindung eines modernen Menschen, der den Kampf mit der Bequemlichkeit, die es bedeutet, Erklärungsmuster wiederzukäuen, nicht scheut.

„ Meine Mutter“ kommt ohne müdes Herumpuhlen in Körperöffnungen und ohne spätpubertäre Mascara-Ergüsse aus. Und ist ein grossartiges Beispiel dafür, wie der verlegerische Mut, den es heutzutage bedarf um einen von der Bildfläche verschwundenen Titel wieder aufzulegen, sich auszahlen kann; zumindest für den Leser. Die Übersetzung von Lotte Dreimann und Angela Rummel musste vom Milena Verlag nur in verschwindend geringem Umfang überarbeitet werden, Herausgeber Thomas Ballhausen hat mit seinen Kolleginnen Ines Freitag und Janina Jonas den Band noch mit einem kleinen Versuch über Ackers Werk abgerundet.

 

296 Seiten, Hardcover
Mit Begleittexten von Ines Freitag, Janina Jonas und Verena Bauer.

€ 23.00 / SFr 40.60

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ISBN 978-3-85286-201-9

Diese Rezension erschien am 5.2.2011 in der taz und am 9.2.2011 in einer anderen Fassung in der jungen Welt.

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