The Inflation of Grey

von Ulf Schleth

grey_coverVaginal, Anal, Double Penetration, Gangbang, Schläge in Gesicht und Bauch. Die Amerikanerin Sasha Grey machte schon in der ersten Bewerbung ihrer Pornokarriere im Alter von 18 Jahren klar, daß es nicht viel gab, das zu tun sie nicht bereit war. Sie schrieb, daß sie die meisten Pornos für langweilig hielt und zu den Darstellerinnen gehören wollte, die die Grenzen dessen erweitern, von dem man glaubt, daß Frauen es zu mögen oder zu sein haben. Vor der Kamera äußerte sie, wie in der Branche üblich, kein schlechtes Wort über ihre Arbeit. Obwohl es auf der Hand liegt, daß man bei einem Produktionspensum von fast 300 Filmen in 3 Jahren eine Menge unangenehme Erfahrungen macht.

An ihrer Behauptung, sie habe ihre Pornokarriere genutzt, um die eigene sexuelle Identität und deren Grenzen auszuloten, scheint etwas dran zu sein. Ein Star in der Szene, die unabhängige und alternative Pornodarstellerin und -produzentin Belladonna buchte sie für einen Fünfstunden-Dreh und schlug ihr vor, sie könnte sich doch ein paar eigene Phantasien verwirklichen. Sasha Grey kam daraufhin mit zwei engbeschriebenen DIN A4 Blättern zum Set.

Zu Weltruhm kam sie in erster Linie wegen ihres extremen Agierens vor der Kamera, wobei ihr adoleszentes Aussehen sicher auch eine Rolle spielte. In ihren Pornos forderte sie ihre Partner auf, noch härter zu sein, verlangte nach mehr, setzte ihnen Schweinenasen aus Gummi auf, beschimpfte sie zuweilen oder glänzte mit unverhergesehenen humoristischen Äußerungen. Sie übernahm scheinbar die Kontrolle und ließ den Zuschauer deutlich spüren, daß sie alles andere ist als ein Objekt oder Opfer. Gegenüber „Spiegel Online“ sagte sie, daß in Porno Raum für Kunst ist und sie Frauen vermitteln wolle, daß an Sexualität nichts sei, dessen man sich schämen müsse.

Vor vier Jahren stieg die damals 21jährige aus der Pornobranche aus. Seitdem hat sie, angefangen mit Steven Soderberghs “The Girlfriend Experience” in einigen Filmproduktionen, Serien und nicht zuletzt in einem satirischen NSA-Werbeclip mitgespielt. Sie ist Teil der Industrial-Band “aTelecine”, ist als DJane vor allem in Russland beliebt, hat den Band “Neü” mit eigenen Fotos herausgegeben und nun ein Buch geschrieben.

Ihr Agent hat ihr schon länger damit in den Ohren gelegen, doch über einen erotischen Roman nachzudenken. Als „Shades of Grey“ herauskam, wie eine Rakete den Bestsellerhimmel eroberte und wegen des Titels häufig mit ihr in Verbindung gebracht wurde, schien akuter Handlungsbedarf vorzuliegen und so schrieb sie (nicht ganz ohne Hilfe) innerhalb eines Monats „Die Juliette Society“. Das Buch ist fast zeitgleich weltweit in allen wichtigen Sprachen erschienen – eine türkische Ausgabe folgt in Kürze.

Es geht um die Filmstudentin Catherine, die in einer monogamen Zweierbeziehung mit ihrem Freund Jack zusammenlebt, der im Wahlkampfbüro des Senators Robert DeVille arbeitet. Ihre Liebe zu Jack währt über die letzte Seite hinaus. Catherine hat sexuelle Phantasien, insbesondere im Zusammenhang mit ihrem Dozenten Marcus. Der hat allerdings bereits eine Liebschaft mit ihrer Kommilitonin Anna. Die beiden Frauen lernen sich kennen.

Anna mag BDSM. Hinter dieser Abkürzung verbirgt sich „Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism“; sie ist ein Sammelbegriff für alle sexuellen Spielarten, die mit Macht, Unterwerfung, Dominanz und Gewalt im weitesten Sinne zu tun und das Einverständnis der beteiligten Parteien zur Voraussetzung haben.

Catherine ist fasziniert von der Welt, die Anna ihr eröffnet und folgt ihr in das sexuelle Neuland. Was sie dort erfährt, bringt ihr jedoch nicht nur Befriedigung, sondern treibt sie auch in die Arme einer illustren Geheimgesellschaft von skrupellosen Reichen und Mächtigen wie Senator DeVille, für die ihr  eigener Lustgewinn über der Maxime des beidseitigen Einverständnisses steht.

„Die Juliette Society“ ist das Buch einer 25jährigen, die viel Sex hatte, geschrieben für Leute, die auf der Suche sind. Auf der Suche nach ihrer eigenen Sexualität oder schlicht nach pornographischer Lektüre mit einem gewissen intellektuellen Anspruch. Grey läßt verschiedene filmische und literarische Referenzen in ihren Text einfließen, insbesondere „Belle de Jour“ von Luis Buñuel und „Sexualität ist Macht“ von Angela Carter. Und genau darum geht es Sasha Grey: um Sex, Macht und den Zusammenhang zwischen beidem.

Im Konrast dazu läßt  die stilistische Reife dieses Romanes leider zu wünschen übrig . Die sexuellen Eskapaden der Christine können partiell mitreißen, lesen sich aber streckenweise wie leb- und lieblose Aneinanderreihungen von kondomlosen Pornoszenen. Die obskure titelgebende Geheimgesellschaft, in deren Ideengefüge natürlich auch der Gott Pan nicht fehlen darf, wirkt künstlich aufgepfropft; eine wirkliche Rolle spielt sie nur im ersten und letzten Kapitel. Doch auch wenn der Text keine hohe literarische Qualität hat, vermag die Lektüre zu unterhalten.

Die Beschreibung der beiden Hauptcharaktere Christine und Anna legt die Spekulation nahe, beide könnten für verschiedene Aspekte des Lebens ihrer Autorin stehen. So sagt Catherine über Anna: „Als wäre der Sex eine Notwendigkeit, die dazu dient, ihre innere Leere auszufüllen, eine Leere, die sich niemals ausfüllen läßt. Aber sie ist ein kluges Mädchen, also wird sie irgendwann erkennen, daß sie in einen Abgrund starrt.“ Es ist gut vorstellbar, daß Sasha Grey sich ziemlich nah an diesem Abgrund befunden hat.

Wer einmal in der Pornobranche gearbeitet hat, ist für gewöhnlich lebenslang stigmatisiert, ein Umsatteln in eine andere Branche wird schwierg. Das dürfte nicht einfacher werden, wenn die eigenen Körperöffnungen jederzeit und bis in alle Ewigeit für jedermann und -frau in hunderten von Videoclips auf tausenden Websites im Internet verfügbar sind. Sasha Grey möchte nicht mehr so gern ständig auf ihre Vergangenheit als Pornodarstellerin angesprochen werden, scheint aber zu wissen, daß das nicht so ohne weiteres umzusetzen ist. Sie macht das beste draus. Sie versucht das System in dem sie gefangen ist, von innen heraus zu ändern und nutzt gleichzeitig die Attraktion, die ihr ehemaliger Beruf auf Publikum und Feuilleton ausübt, als Sprungbrett für ihre weitere Karriere.

Ohne diese Attraktion würde wohl niemand ihrer Kunst größere Beachtung schenken. Die lüstern geifernde Dankbarkeit der Medien für dieses Geschenk ist spürbar: Ein intelligentes Mädchen, das freimütig erzählt, daß es mit 16 ½ zum ersten Mal Sex hatte, das sofort mit der Volljährigkeit zum Pornostar wurde und als 25 jährige Frau ein Buch schreibt und Kunst macht. Die dann auch noch darauf beharrt, das alles aus freien Stücken, Spaß und freien Stücken getan zu haben. Wieviel Spaß kann es machen, in einer Zeit, in der andere Leute noch ihre Jugendlichkeit genießen, über 3 Jahre hinweg etwa alle 4 Tage einen anstrengenden Pornodreh zu haben? Mit Partnern, die sie sich nicht aussuchen kann, begleitet von Infektionen und anderen Berufsrisiken.

Weiß eine Workoholic-Pornoakteurin besser was guter Sex ist, als jemand anderes, wo Porno doch eher auf schnelle Befriedigung des Publikums ausgelegte, inszenierte Fantasie ist? Wie wirken sich solche Erfahrungen auf die Entwicklung von emotionaler Nähe und Reife aus? Erklärt sich so vielleicht die partielle Gefühlsarmut in „Die Juliette Society“? Kann man unter diesen Voraussetzungen wirklich glaubhaft Hilfestellung zur sexuellen Selbstfindung geben?

Man mag Sasha Grey für subversiv halten oder für heuchlerisch und kommerziell, für eine Feministin, eine Feminismuskritikerin oder keines von beidem. Tatsächlich steht sie ein für die sexuelle Selbstbestimmung der Frau und wirbt dafür, daß Frauen wie Männer auch BDSM-Praktiken ausüben können sollten, ohne sich dafür schlecht oder krank fühlen zu müssen. Daß es keinen Widerspruch zwischen BDSM, Zärtlichkeit und Liebe gibt. Daß es normal ist, daß sich ein Mensch von etwas erniedrigt fühlt, ein anderer aber frei und stark. Die Tabuisierung weiter Bereiche menschlicher Sexualität gefährdet in Greys Augen die Persönlichkeitsentwicklung. Und obwohl sie mit diesem Buch auch auf Verkaufszahlen ausgelegten Mainstream produziert, macht dieser Umstand „Die Juliette Society“ um einiges lesenswerter als das sich in dümmlichen Rollenklischees verlierende „Shades of Grey“.

Sasha Grey treibt ihre Karriere und ihre Kunst in einem ungeheuren Tempo voran. Vielleicht ist genau das ihr Problem. Wenn sie ihrer Kunst wegen geliebt werden möchte, wird sie sich ein bisschen mehr Zeit lassen und etwas mehr Energie in die Entwicklung ihrer Arbeiten stecken müssen. Daß sie dazu in der Lage ist, steht vollkommen außer Frage.

Sasha Grey
„Die Juliette Society“
320 Seiten, ISBN 978-3453268869
Heyne Hardcore, EUR 8,80/19,99

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Dieser Artikel erschien am 30.01.2014 in bearbeiteter Fassung unter dem Titel “Die Befreierin” in der taz und am 31.01. auf taz.de.

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